Für mich beginnt heute die neunte Woche Homeoffice. Die Erinnerungen an die ersten Tage des Lockdown im März werden immer verschwommener... die Tage davor, waren Direktberatungen noch möglich, mit Distanz und ohne Händeschütteln. Dann kam der Entscheid der Leitung unserer Beratungsstelle, dass wir "Bleiben Sie zu Hause" umsetzen und wir Beratungen online und via Telefon aus dem Homeoffice durchführen. Seither habe ich via VPN Zugriff auf all meine Bürodaten und die Telefonzentrale ist auf unsere Handys umgeleitet.
Anfänglich tat ich mich recht schwer mit dieser ganzen Umstellung. Normalerweise berate ich pro Tag mehrere Klientinnen und Klienten, betreue an zwei Tagen in der Woche für je zwei Stunden ein Bewerbungsatelier. Ich habe in "normalen Zeiten" täglich mit vielen Menschen zu tun. Das schätze ich auch so an meinem Beruf. Nun beantworte ich seit acht Wochen in meinen eigenen vier Wänden die Mailanfragen und während je zwei Stunden an den Nachmittagen am Dienstag, Mittwoch und Donnerstag die telefonischen Anliegen. Diese Vermischung von Privatleben und Beruf, die fällt mir auch heute noch recht schwer. Da sitze ich in meinen eigenen vier Wänden und beantworte Fragen zu Kündigungen, Kurzarbeit, Stellensuche und weiteren arbeitsrechtlichen Problematiken. Oft sind die Anrufenden auch psychisch angeschlagen, die psychosoziale Beratung wird immer wichtiger. Den Menschen drückt der Schuh, sie haben existentielle Ängste. Wer mit Kurzarbeit von 80 Prozent eines Tieflohnes leben muss, der muss den Gürtel jetzt gewaltig enger schnallen. Fragen zu Kündigungen und der Anmeldung zur Sozialhilfe sind massiv angestiegen.
Das ist die berufliche Veränderung, die ich während dem Lockdown durchlebte. Privat habe ich mich konsequent auf "Bleiben Sie zu Hause" eingestellt. Ich habe in den vergangenen Wochen auf Distanz nur Menschen aus meiner Siedlung gesehen, verlasse das Haus bloss für Einkäufe oder ausgedehnte Waldspaziergänge. Ich wohne direkt am Waldrand und so bin ich in wenigen Minuten auf den schönen Waldwegen des Hönggerberges. Oft und lange sitze ich neben einem Brunnen, mitten unter den Bäumen, und lasse den Wald auf mich einwirken. Die Spaziergänge sind zu Seelenbalsam geworden.
Politisch habe ich mich wenig geäussert. Ich ging durch ein Wechselbad der Ängste und Befürchtungen. "Sind die Massnahmen wirklich angebracht?", "ist es verhältnismässig die Wirtschaft mit den Lockdown-Massnahmen derart an die Wand zu fahren?" Aktuell bin ich der Meinung, dass dies niemand wirklich beurteilen kann, die Aufarbeitung wird zeigen, ob die Massnahmen sinnvoll waren. Der Bundesrat musste handeln, und das mit teilweise sehr wenig Informationen. Die nun rasant stattfindende Lockerung, ebenfalls eine recht unvorhersehbare und wohl eher politisch motivierte Massnahme. Verständlicherweise haben wohl Parteien und Wirtschaftsvertreter*innen massiven Druck ausgeübt. Auch hier wird es sich zeigen, ob diese Massnahmen richtig waren. Niemand weiss es genau.
Dass der Bundesrat derart viel Macht erhält, das beängstigte mich zeitweise doch sehr. Ich habe aus verschiedenen Gründen kein blindes Vertrauen in Regierung und Behörden. Nicht erst seit Enthüllungen von Whistleblowern wie Snowden und Assange bin ich mir bewusst, dass hinter den Kulissen einiges "gespielt" wird. Die Fichenaffäre und Überwachungsmassnahmen mit den Sozialversicherungsdetektiven haben mein Vertrauen massgeblich gestört. Zudem hat der Bundesrat schon einmal das Vollmachtenregime nicht freiwillig abgegeben: https://www.big.admin.ch/content/big-internet/de/home.detail.event.html/big-internet/2019/vortragsreihe-big---sieben-diktatoren-und-ein-general--die-schwe.html .
1949 bedurfte es einer Volksabstimmung um die direkte Demokratie wieder herzustellen:
Eine Bekannte meinte, dass damals die direkte Demokratie die direkte Demokratie wieder herstellte. Ganz so einfach war es dann aber doch nicht. Untersuchungen von Rechtswissenschaftler*innen ergaben, dass der Bundesrat durchaus auch unliebsame Volksabstimmungen verschleppte. Kritiken wie die vom zeitgenössischen Rechtswissenschaftler Zaccaria Giacometti beunruhigten mich doch sehr.
Aktuell sehe ich die geordnete und absehbare Rückkehr zur Gewaltentrennung und der direkten Demokratie eher gelassen. Der Bundesrat hat sich an die Verfassung gehalten, das Parlament hat seine Verantwortung wieder übernommen. Die Überführung der Covid-Verordnung 2 in Bundesrecht geht seinen demokratischen Weg, gestützt auf Notrecht und der Bundesverfassung. Wie üblich bei solchen Gesetzen arbeitet der Bundesrat einen Entwurf aus und dieser wird in die Vernehmlassung gehen. Das Parlament wird dann darüber abstimmen. Dass mit Argusaugen hingeschaut werden muss, wenn Grundrechte ausgehebelt werden, da bin ich mit Skeptiker*innen einig. Aber ich kann nicht wie andere, Faschismus oder einen totalitären Staat erkennen.
Hier eine Stellungnahme von www.humanrights.ch:
Ich schaue kritisch hin, aber ich distanziere mich ganz klar von den momentan kursierenden Verschwörungstheorien. Natürlich ist es heikel, wenn eine Einzelperson wie Bill Gates so viel Geld in Projekte der WHO investiert. Und ich finde es gut, dass da auch genau hingeschaut wird. Aber nein, ich glaube nicht, dass uns Bill Gates Chips implantieren will oder dass die Schweizer Behörden einen Impfzwang einführen werden.
Besonders ärgern mich die Postings zu Ken FM und dessen Besitzer Ken Jebsen. Ich traue ihm noch weniger als den sogenannten Mainstream-Medien. Ken Jebsen hat nach seinem Rausschmiss bei rbb sein eigenes kleines Medienunternehmen aufgebaut. Wann immer eine Krise die Menschen verunsichert, ist er zur Stelle und verkündet seine "Wahrheiten". Nur er selber kennt die Wahrheit, das ist seine Geschäftsstrategie und seine Auftritte wirken auf mich wie die eines Sektenführers und Gurus. Das hat meiner Ansicht nach nichts mit gutem, sachlichen und unabhängigem Journalismus zu tun:
https://www.nau.ch/news/europa/blogger-ken-jebsen-sorgt-mit-youtube-video-fur-verwirrung-65705268
Zur Zeit lese ich neben der Tagespresse sehr oft Artikel der WOZ und den täglichen Newsletter der Republik, informiere mich auch bei infosperber und insightparadeplatz.ch. So deckt meine Informationsquelle die ganze Bandbreite der politischen Vielfalt ab.
Die Demonstrationen gegen die bundesrätlichen Massnahmen am Wochenende fand ich eher peinlich, denn sinnvoll. Natürlich werde auch ich wieder politisch aktiv, wenn die Situation die Rückkehr in die Tagespolitik erlaubt. Ich werde mit Franziska & Bruno Hulliger, Pierre Bayerdörfer und anderen das Engagement gegen Altersarmut und Arbeitslosigkeit ü50 wieder aufnehmen, werde mich für die Konzernverantwortungsinitiative und gegen die Begrenzungs-Initiative engagieren. Ich werde sicher auch diverse Aktivitäten von linken Parteien unterstützen, damit nicht vor allem die "Kleinen" unter den Nachwirkungen des Lockdown zu leiden haben. Auch ihnen gehört ein grosses Stück des Milliardenpaketes.
Samih Sawaris Kritik an den bundesrätlichen Massnahmen habe ich zur Kenntnis genommen. Anders als andere, habe ich darin nicht einfach die Meinung eines geldgierigen Investors gesehen, sondern sah doch die eine oder andere durchaus berechtigte Kritik. Und solche Kritik muss Platz haben! Auch während des Lockdown!
Aber aktuell versuche ich Homeoffice und Privatleben unter einen Hut zu bringen, geniesse öfters mal digitale Pausen und ausgedehnte Waldspaziergänge. Ich rufe Bekannte, Freunde und Verwandte an, denen die Isolation schwer fällt.
Hier noch ein Link der Schweizer Kampagne zur psychischen Gesundheit:
Wir gehen durch eine schwere Krise und nicht jede*r geht gleich damit um. Schauen wir gut zu uns.
Ich wünsche einen guten Start in die neue Woche! Bleibt gesund!