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Verschwörungstheorien - wenn der Wahn zum Glauben wird

In den vergangenen Wochen habe ich mich immer wieder gefragt, wie es sein kann, dass Menschen welche ich früher als rational Denkende einschätzte, plötzlich derart radikalisiert sind. Wie werden Menschen zu Fanatikern? Wo fängt der Glaube an und wo endet es in irrationalem Fanatismus? Wann überschreiten Menschen die Schwelle vom Fanatismus zum Terrorismus? Wie weit gehen Menschen um ihren Glauben anderen aufzuzwingen?

 

Infosekta, die Fachstelle für Sektenfragen schreibt "Verschwörungsideologien versuchen Zufälle oder Ereignisse, auf die Menschen keinen direkten und indirekten Einfluss ausüben (z.B. komplexe gesellschaftliche Vorgänge wie internationale Politik oder Wirtschaft, aber auch Naturkatastrophen etc.) durch den Plan einer grossen Weltverschwörung zu erklären. (...) Die wissenschaftliche Forschung geht davon aus, dass Verschwörungsideologien besonders in Krisenzeiten weit verbreitet sind. (...) Ein nicht zu unterschätzendes Element von Verschwörungstheorien ist deren identitätsbildende Funktion."

 

In einem Interview mit dem Tagesspiegel erklärt Giulia Silberberger, Expertin für Verschwörungstheorien: "Etwas nicht erklären zu können, ist ein echt fieses Gefühl". Frau Silberberger leistet mit ihrer Initiative "Der goldene Aluhut" Bildungsarbeit zu Verschwörungstheorien. Frau Silberberger bewegt sich in ihrer Arbeit auch verdeckt in Gruppen von Verschwörungstheoretikern in den sozialen Netzwerken. Für sie hat in der Coronakrise die Theorie, dass Bill Gates hinter allem steckt, den höchsten Unterhaltungswert. Aber sie meint auch, dass ihr das Lachen langsam vergehe, da es immer bedrohlicher werde. Insbesondere die zunehmende Gewaltbereitschaft dieser Szene. 

 

Es ist ein weiter Weg von einer kritischen Haltung zu dem Fanatismus der Verschwörungstheoretikerinnen und -theoretiker. Das Verhalten ist oft auch recht widersprüchlich. Ende Juni hielten 34 Prozent der deutschen Bevölkerung das Coronavirus für eher oder gar extrem gefährlich. Nur ungefähr jeder Fünfte betrachtete es Ende Juni als eher oder extrem wahrscheinlich, sich  zu infizieren. Im April war das noch etwa jeder Dritte. Trotzdem ist die Bereitschaft zu Schutzmassnahmen wie Social Distancing oder Maskentragen immer noch recht hoch. Ralph Hertwig, Psychologe am Max-Planck-Institut meint in einem Interview mit dem Tagesanzeiger, dass die Polarisierung sich verschärfe. 18 Prozent stellen den "Corona-Medienhype" prinzipiell infrage und halten die Massnahmen für übertrieben. Auf die Frage ob die staatskritischen Verschwörungstheoretiker nach dem Lockdown nicht verstummen müssten, meint Ralph Hertwig: "Es sind ja keine Theorien, eher Verschwörungsnarrative. Leider spielt hier möglicherweise auch das Präventionsparadox eine Rolle: Aufgrund der Schutzmassnahmen wurde alles weniger schlimm als befürchtet, daher scheinen manche zu denken, die Massnahmen seien völlig unnötig gewesen. Ein wenig ist diese Sichtweise auch in die Mainstream-Gesellschaft eingesickert: Jedenfalls die Zahl der Unentschiedenen, die keine klare Meinung über die Sinnhaftigkeit der Schutzmassnahmen haben, gestiegen, auch wenn sie diese weiterhin unterstützen."

 

Zu den Forschungsschwerpunkten von Michael Butter, Professor für Kulturgeschichte an der Universität Tübingen, gehören Verschwörungstheorien. Er rät in einem Interview mit Deutschlandfunkkultur zur Behutsamkeit im Gespräch mit Anhängern von Verschwörungstheorien und nicht immer zum Argumentieren.  Mit Fakten könne man diese Menschen nicht überzeugen. Er stellt aber auch klar, dass diese Menschen nicht unbedingt psychisch krank seien, dass man ihre Theorien nicht unbedingt als Psychose oder Paranoia abtun könne. "Verschwörungstheorien sprechen insbesondere diejenigen Menschen an, die schlecht mit Unsicherheit und Ambivalenz umgehen können. Ganz offensichtlich ist es so, dass es für viele Menschen einfacher ist zu akzeptieren, dass jemand Böses im Hintergrund die Strippen zieht, als zu akzeptieren, dass niemand die Strippen zieht, und die Dinge einfach so passieren und sich auch nicht immer klar in gut und böse unterteilen lassen." 

 

Urs Hans, Kantonsrat der Grünen, wurde wegen fragwürdiger Aussagen zur Corona-Pandemie aus der Partei ausgeschlossen. Der bekennende Impfgegner, war mit "kruden Thesen" zur Corona-Pandemie aufgefallen. Dreimal äusserte er sich im Kantonsrat und vertrat etwa die Meinung, die Covid-19-Pandemie sei bloss eine hartnäckige Grippe. Geschäfts- und Fraktionsleitung der Grünen distanzierte sich in einer Mitteilung von dessen abenteuerlichen Thesen zur Pandemie und zur Behandlung von Covid-19. Diese entbehrten jeglicher wissenschaftlicher Grundlage. Urs Hans wurde 2013 vom Bundesgericht wegen Impfverweigerung und fahrlässiger Tierquälerei verurteilt. Er hatte sich geweigert, seine Rinder gegen die Blauzungenkrankheit zu impfen. 

 

Auch im Umfeld meiner ehemaligen Partei, der Piratenpartei, hat es fanatische Verschwörungstheoretiker*innen. Einer der fanatischsten Exponenten sprach in den sozialen Netzwerken von Faschismus und Totalitarismus im Zusammenhang mit den bundesrätlichen Anordnungen oder schreibt abstruse Behauptungen wie "Die Pandemie ist längst vorbei, auch wenn sie wohl niemals wirklich eine war!". Seine eigene Meinung stellt er in einem Anflug von Grössenwahn über die der Experten der WHO oder der Taskforce welche den Bundesrat beriet. Ein deutlicheres Beispiel für "Verschwörungstheorien - wenn Wahn zum Glaube wird" kenne ich nicht. Leider hat sich bisher niemand meiner ehemaligen Kolleginnen und Kollegen aus der Parteileitung von solch abstrusen Aussagen distanziert. 

 

Nicht nur eher unbekannte Politiker*innen und Personen nutzen die sozialen Medien um ihre abstrusen Theorien zu verbreiten. Einige radikalisierte Persönlichkeiten aus Politik und Gesellschaft tun es ihnen gleich. Fern von sachlichem Journalismus oder faktenbasierenden Argumenten verbreiten sie ihre wahnhaften Theorien.

 

Der Lockdown ist vorerst vorbei, die Pandemie ist es nicht. Und solange der Virus unser Tagesgeschehen und die Presseberichterstattung derart dominiert, werden auch die Verschwörungstheorien nicht verschwinden.